LIBANIOS.
Ich bitte meinen gekrönten Bruder, zu bedenken, daß ich im Namen der Stadt rede. Was mich selber betrifft, so schätze ich die unsterblichen Götter so hoch wie irgend einer. Was wäre die Kunst der Beredsamkeit ohne die Erzählungen, die die Dichter vergangener Zeiten uns hinterlassen haben? Sind diese Erzählungen nicht einem köstlichen Bergwerk zu vergleichen, aus dessen Erz ein gebildeter Redner Waffen und Schmuck sich schmieden kann, wenn er es nur mit Einsicht zu verwerten weiß? Ja, wie flach und geschmacklos würden nicht selbst die Regeln der Weisheit ausfallen, müßte man sie ohne die Bilder und Gleichnisse ausdrücken, die man den überirdischen Dingen entnimmt? – Aber sag’, o Freund, – kannst Du hoffen, diese Anschauungsweise beim Pöbel zu finden, zumal in einem Zeitalter wie dem unsrigen? Ich versichere Dir, in Antiochia jedenfalls steht es nicht so gut. Die Bürger hier – die Galiläer wie die Aufgeklärteren – haben in den letzten Jahren miteinander gelebt, ohne sonderlich auf dergleichen zu achten. Es gibt kaum einen Hausstand in der Stadt, wo nicht verschiedene Ansichten über die göttlichen Dinge herrschten. Aber das hat, bis vor kurzer Zeit, das gute Verhältnis nicht gestört. – Jetzt ist das anders geworden. Man beginnt, Lehre wider Lehre zu erörtern. Zwist ist entstanden unter den nächsten Anverwandten. Ja, neulich hat ein Bürger, dessen Namen ich nicht gern nennen möchte, seinen Sohn enterbt, weil der junge Mensch sich von der Gemeinde der Galiläer losgesagt hat. Handel und Wandel leiden unter all dem, und das macht sich doppelt fühlbar jetzt, wo Teuerung herrscht und Hungersnot vor der Tür steht.